Der Tagesspiegel 11.11.2001 Trialog

Die Schwurformeln des Krieges

Von Antje Vollmer "Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer", das wissen alle erfahrenen Kriegsberichterstatter seit Aischylos. Und Karl Kraus, der uns als Kommentator heute so sehr fehlt wie der junge Rudolf Augstein, hat gesagt: "Die Lüge beginnt in der Sprache." Es ist interessant, die Sprache zu untersuchen, die zur Verarbeitung des Traumas vom 11. September geprägt wurde. "Nichts ist mehr so, wie es war", das ist wohl der häufigst gebrauchte Satz. Das ist ahnungsvoll und war intuitiv überzeugend. Zeitenwende. Neuanfang. Umwertung aller Werte. Trauer um die schöne Zeit vorher, wo alles so einfach war. Ein neues Koordinatensystem der Politik wird erfunden. Selbstmissionierung für neue, sehr schwere Aufgaben. Inzwischen taucht die Redewendung auch in leichtgewichtigen Zusammenhängen auf: "Nichts ist mehr so wie es war", etwa in der Tourismusindustrie, bei den Tarifverhandlungen, bei der Rechthaberei, bei den jakobinischen Schlachten im Feuilleton. Sie lebt also doch noch ein bisschen, die alte kleine Welt der alten kleinen Bundesrepublik. "Das war nicht ein Angriff auf Amerika, das war ein Angriff auf uns alle, auf die ganze zivilisierte Welt." Das war damals ein erster Deutungsversuch. Die Bündnisverpflichtung war da, schon bevor sie eingefordert wurde während der Nato-Tagung. Da war viel Erschrecken und viel Mitgefühl. Inzwischen hat diese Formel, wiederholt gebraucht, etwas Verhaftendes. Kameradschaftsgeist. Zugehörigkeitsverpflichtung. Die "ganze zivilisierte Menschheit" ist eine Abgrenzungsbeschwörung gegen den ganzen "barbarischen" Rest der Welt. Genau genommen ist es die Herstellung eines Erste- Welt- Kollektivs, eine Denkmaschine. Galt es nicht, etwas ganz Neues zu begreifen, anstatt die alten Identitäten ab- und ausgrenzend zu verbarrikadieren? "Uneingeschränkte Solidarität" - das war das erste spontane Angebot des Kanzlers Gerhard Schröder an die in ihrem symbolischen Zentrum grausam getroffene einzig verbliebene Weltmacht Amerika. Gemeint war: Ihr könnt euch auf uns verlassen. Ein Versprechen, Solidarität nicht nur in Sonntagsreden zu behaupten, sondern in schweren Zeiten praktisch einzulösen. Aber inzwischen ist auch dieses gute Versprechen zu einer Formel betoniert. Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer damals getrauert hat, muss heute mitmarschieren. Es wäre gut, der rituelle Charakter dieses Satzes würde noch einmal aufgebrochen. Echte Solidarität ist nun einmal eine offene, eine dialogische, eine, in der es noch etwas miteinander in Augenhöhe zu verhandeln gibt. "Krieg gegen den Terrorismus", kaum eine sprachliche Festlegung hatte so weitreichende Folgen wie diese. Was am 11. September geschah war ein Verbrechen - in gigantischem und hochsymbolischem Ausmaß. Aber es war ein Verbrechen, das nach den Kategorien von Verbrechen aufzuklären und nach den Kategorien von Verbrechen zu bekämpfen ist. Erst die Interpretation "Krieg" brachte die Kriegserklärung mit sich, die große Kriegsallianz anstelle einer Werteallianz, die Kriegsarsenale anstelle intelligenter Systeme. Das ist nicht mehr rückholbar. Hier begann eine Verwechslung, die viele tragische Irrtümer beinhalten kann. Es ist sehr verständlich, dass ganze Gesellschaften, denen etwas Unfassbares geschehen ist, dieses Unbegreifbare in Begriffen zu bannen suchen. Das ist ein erster notwendiger Zugriff. Sobald aber diese Begriffe ihre Eigendynamik entwickeln, sobald sie zu Schwurformeln werden, verstellen sie den Blick - und manchmal die Chance, frei zu denken, zu urteilen und zu handeln. > Zurück
© 2015 Dr. Antje Vollmer